Nur noch 5 Wochen bis zu meinem ersten 50km-Wettkampf! Seit rund 8 Wochen trainiere ich nun auf dieses Ziel hin. Dabei experimentiere ich mit einem neuen Trainingsansatz, der in Standard-Trainingsplänen eher wenig Beachtung findet: Polarisiertes Training.
In einem Gespräch mit dem Ultraläufer und Coach Michael Arend Anfang Dezember stellte er mir die Frage, ob ich Panik vor der Distanz oder dem Wettkampftempo des 50km-Laufes habe. Danach sehe nämlich mein – zu diesem Zeitpunkt frei nach Hubert Beck erstellter – Trainingsplan aus.
Anstatt viele Kilometer im mittleren Tempobereich zu schrubben, empfahl mir Micha, das Training „polarisierter“ aufzubauen.
Polarisiertes Training – Was ist das?
Viele sportwissenschaftliche Studien befassen sich mit der Frage, welche Verteilung von Trainingsintensitäten für Ausdauersportler am leistungsförderlichsten ist.
Der amerikanische Professor Stephen Seiler fasst die Ergebnisse verschiedener Studien mit der 80/20-Regel zusammen: Das Verhältnis von 80% low-intensity training (Zone 1-2) und 20% threshold/high-intensity training (Zone 3-5) ist unter Profisportlern weit verbreitet und führt langfristig zu den größten Leistungsverbesserungen (ausführlich beschrieben in „Training Intensity Distribution“, in „Endurance Training: Science and Practice“, 1. Aufl., 2012, Verlag: Vitoria-Gasteiz, Hrsg.: Inigo Mujika, S. 31-39).
In einer Studie von Seiler & Kjerland („Quantifying training intensity distribution in elite endurance athletes: is there evidence for an “optimal” distribution?“, Scandinavian Journal of Medicine & Science in Sports, 2006, Vol. 16, S. 49-56) gehen die Forscher noch einen Schritt weiter: Sie zeigen auf, dass die Trainingsgestaltung am effektivsten ist, wenn die intensiven Einheiten in Zone 4-5 stattfinden und nur ein geringer Trainingsumfang im mittleren Intensitätsbereich (Zone 3) stattfindet.
Dieser Ansatz nennt sich polarisiertes Training. Vereinfacht gesagt trainiert man entweder sehr langsam oder sehr schnell. Training im mittleren Bereich, der bei Langstrecken-Sportlern auch das eigentliche Wettkampftempo umfasst, wird nur in reduziertem Maße eingesetzt.
Folgestudien bestätigen die positiven Effekte des polarisierten Trainings und belegen, dass es auch bei Hobbysportlern zu positiven Leistungsentwicklungen führt (siehe z.B.
„Does Polarized Training Improve Performance in Recreational Runners?“ von Muñoz, Seiler, Bautista, España, Larumbe & Esteve im „International journal of sports physiology and performance“, Mai 2013; „Polarized training has greater impact on key endurance variables than threshold, high intensity, or high volume training“ von Stöggl & Sperlich in „Frontiers in Physiology“, Feb. 2014).
(Deep-dive am Rande: Auf Jörg’s Multisport Blog wird die Forschungsarbeit von Stöggl & Sperlich sehr detailliert und anschaulich erklärt.)
Hach, ich als Laufnerd könnte mich tagelang mit diesen Studien beschäftigen… Aber um die Praktiker unter euch nicht zu Tode zu langweilen, kommen wir zurück auf den Boden.
Wie sieht es in der Praxis aus? Ist polarisiertes Training wirklich für jeden und in jeder Trainingsphase sinnvoll? Fragen wir doch mal den Experten…
Michael Arend, für wen und und in welchen Trainingsphasen ist polarisiertes Training geeignet?
Grundsätzlich ist polarisiertes Training sowohl für Profis, als auch für Hobbysportler geeignet. Die Forschung ist noch nicht am Ende, aber schon jetzt lässt sich sagen: Wenn es keine läuferindividuellen Notwendigkeiten für einen anderen Trainingsansatz gibt, ist polarisiertes Training eine gute Wahl. Auch für Ultraläufer!
Polarisiertes Training kann das ganze Jahr über durchgeführt werden – also sowohl in der allgemeinen, als auch in der spezifischen Vorbereitung.
Klar ist aber auch, dass gerade vor Wettkämpfen die psychische und physische Stabilität im Wettkampftempo nicht zu unterschätzen ist. Das gleiche gilt, zumindest im gewissen Ausmaß, für die Laufeffizienz. Deshalb kann es durchaus zuträglich sein, in den letzten Wochen vor einem Wettkampf auch Einheiten im Wettkampftempo zu laufen.
Meiner Empfehlung nach sollte diese spezielle Vorbereitung der Devise folgen: So viel wie nötig, so wenig wie möglich – was auch immer das im Einzelfall heißen mag.
Übrigens: Auch (oder gerade) sehr gute Läufer wie Kipchoge trainieren sehr viel im Wettkampftempo. Einen Kipchoge durch hochintensive Einheiten noch schneller zu machen ist nämlich keine leichte Aufgabe! Da spielen Konstanz und eine gute Laufeffizienz im Wettkampftempo eine übergeordnete Rolle.
Polarisiertes Training für einen 50km-Wettkampf
Wie lässt sich polarisiertes Training nun ganz konkret in meine Vorbereitung auf den 50km-Lauf einbauen? Welche Unterschiede gibt es zu einem eher klassischen Trainingsplan à la Beck oder Steffny?
Zunächst einmal möchte ich darauf hinweisen, dass polarisiertes Training individuell sehr unterschiedlich und in verschiedenen Abstufungen umgesetzt werden kann. Hardliner werden bei den folgenden Beispielen behaupten, dass es gar kein „richtiges“ polarisiertes Training ist.
Das stimmt: Ich setze diese Trainingsform nicht 1 zu 1 um, sondern eher „tendenziell“. Im Rahmen von (gesteigerten) Dauerläufen, Tempowechselläufen oder auch langen Läufen (siehe Beispielwoche Polarisiert #2) baue ich immer wieder das geplante 50km- oder Marathon-Renntempo ein – klassische Zone3-Kandidaten. Wie Micha oben erklärt, kann das durchaus Sinn machen – auch wenn es nicht dem Standard-Schema des polarisierten Trainings entspricht.
In der oberen Grafik stehen zwei beispielhafte Wochen aus einem klassischen Trainingsplan denen eines polarisierten Trainingsplans gegenüber. (Anm. an alle high-volume-Vertreter: Die Beispiele sind individuell auf mich zugeschnitten. Genau, ich laufe „nur“ viermal in der Woche und nicht mehr als 80 Wochenkilometer. Qualität vor Quantität – damit mache ich persönlich die besten Erfahrungen.)
Die Diagramme zeigen den jeweiligen Wochenkilometer-Anteil in verschiedenen Intensitätsbereichen. Wie ihr erkennen könnt, werden bei dem polarisierten Ansatz im Schnitt weniger Kilometer in Zone 3 gelaufen. Dafür steigt der Anteil an Aktivitäten in Zone 4 und 5.
Apropos Zone 5: Gerade die wird in klassischen Ultralauf- (und Marathon-!) Trainingsplänen oft vollständig vernachlässigt. Da ich jedoch auf eine gute Grundlage in den Zonen 1-4 aufbaue, experimentiere ich in der momentanen Wettkampfvorbereitung damit, noch relativ lang intensive Intervalle (≥ 10km-Renntempo) in mein Training einzubauen. Erst in den letzten vier Wochen vor dem Wettkampf werde ich sie vorübergehend an den Nagel hängen und gegen extensive Intervalle und Tempodauerläufen in Zone 4 austauschen. Dann geht es um Tempohärte statt Grundschnelligkeit.
Hand auf’s Herz: Wie isses?
Ich habe in den letzten Wochen sehr gute Erfahrungen mit dem polarisierten Training gemacht. Da ich vor allem die intensiven und die langen Einheiten sehr abwechslungsreich gestalte, setze ich regelmäßig neue Trainingsreize. Das spüre ich sowohl direkt nach dem Training, als auch in Bezug auf meine allgemeine Laufleistung.
Die intensiven Einheiten in Zone 5 fallen mir mal leichter und mal schwerer. Vielleicht liegt es auch an den winterlichen Wetterkapriolen mit Wind, Schnee und eiskalter Luft – was sich in der einen Woche super anfühlt, kann mich schon in der nächsten Woche an meine Grenzen bringen. Grundsätzlich habe ich aber das Gefühl, dass mir durch die intensiven Einheiten das Tempo in Zone 3 und 4 leichter fällt.
Und das ist ja letztlich auch mein Ziel: Wenn sich bis zum Lahntallauf das geplante 50km-Wettkampftempo ganz locker-flockig anfühlt (und ich es 50 km lang durchhalten kann), bin ich happy!
Und wie sieht es bei anderen ambitionierten Hobbysportlern aus?
Michael Arend, welche Erfahrungen mit polarisiertem Training hast du mit deinen Athleten gesammelt?
Die Mehrheit meiner Athleten macht vor allem nach der Ultralauf-Saison große Leistungsfortschritte, wenn wieder verstärkt Intervall-Einheiten oberhalb 90% der VO2max im Trainingsplan stehen.
In dieser Phase haben sie eine sehr gute Grundlagenausdauer und können durch intensive Trainingseinheiten gezielt ihre Kapazität zur Sauerstoffaufnahme und damit ihre Geschwindigkeit verbessern. (Anm.: Auf Michas Blog findet ihr einen ausführlichen Beitrag über Wintertraining von Ultraläufern.)
Man darf daraus aber nicht schließen, dass dies immer und für jeden das beste Training ist. Ich habe auch durchaus Athleten, die durch einen hohen Laufumfang im aerob-anaeroben Übergangsbereich, also in Zone 3, gute Fortschritte machen.
Kurzum: Polarisiertes Training ist nicht gleich polarisiertes Training. Und Athlet ist nicht gleich Athlet. Die Umsetzung und Optimierung ist sehr individuell.
Ihr habt auch schon Erfahrung mit polarisiertem Training gesammelt? Oder habt Fragen zur Umsetzung und individuellen Anpassung? Dann freue ich mich auf eure Kommentare!